REFLECTIONS
INNOCENCE IS THE CRIME :
WERKSTATTGESPRÄCH MIT FRANCESCA MELANDRI
Moderation: Barbara Wahlster
16. SEP, 20.00 Uhr
Staatsbibliothek zu Berlin. Haus Unter den Linden
Auf Englisch
Tickets 10,- € / ermäßigt 6,- €
Ticketinformationen
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Francesca Melandri, deren 2018 erschienener Roman »Alle, außer mir« zehn Wochen lang auf der »Spiegel«-Bestsellerliste stand, gibt Einblicke in ihr aktuelles Buchprojekt. Darin führt sie ihre Auseinandersetzung mit dem Thema Kolonialismus fort: Aus dezidiert europäischer Sicht nimmt sie die USA in den Blick und spürt in der Geschichte der Staaten die Wurzeln aktueller Probleme wie Polizeigewalt oder Rechtsextremismus auf.
Francesca Melandri wurde 1964 in Rom geboren. Sie wirkte als Drehbuchautorin, u. a. bei der Adalbert-Stifter-Adaption »Bergkristall«, dem Märchenepos »Fantaghirò« nach Italo Calvino sowie der populären TV-Serie »Don Matteo« mit Terrence Hill in der Titelrolle mit. Zudem führte sie Regie bei der Dokumentation »Vera« (2010) über eine Holocaustüberlebende, die als Einzige ihrer aus Zagreb stammenden Großfamilie der Vernichtung entrinnen konnte und sich nun im hohen Alter in der Nähe von Rom der Züchtung von Vollblütern widmet.
Ihren Debütroman »Eva dorme« (2010; dt. »Eva schläft«, 2011) siedelte Melandri in Südtirol an, wo sie selbst viele Jahre verbrachte. Als der verschwunden geglaubte Stiefvater im Sterben um ein letztes Treffen bittet, begibt sich die Protagonistin von Bozen aus in Richtung Reggio Calabria am südlichsten Ende des italienischen Stiefels. Auf der Reise lässt sie die Lebensgeschichte ihrer alleinerziehenden Mutter und die wechselhafte Historie der Region Alto Adige Revue passieren. In der Rückschau offenbart sich, welch einschneidenden Einfluss der fortwährende politische Konflikt auf die intimen Verhältnisse und nicht zuletzt auch auf die untereinander gebrauchte Sprache hatte, sodass die Emanzipation und die Beharrlichkeit einer auf sich selbst gestellten Frau umso deutlicher zutage treten.
Auch in »Più alto del mare« (2012; dt. »Über Meereshöhe«, 2012) kommt die existenzielle Bedeutung einer lang zurückliegenden Folge von Begegnungen zum Vorschein: Ende der siebziger Jahre treffen in einer Sturmnacht eine Bergbäuerin und ein früh emeritierter Philosophieprofessor beim Besuch einer abgeschotteten Gefängnisinsel auf einen Vollzugsbeamten, der sich auf dem Eiland ebenso isoliert fühlt wie die unter ihren Verfehlungen und den alltäglichen Demütigungen leidenden Inhaftierten.
Melandris drei Generationen umspannender Roman »Sangue giusto (2017; dt. »Alle, außer mir«, 2018) thematisiert die oft verdrängten kolonialen Interventionen Italiens und ihre Verbindungen zu heutigen Migrationsbewegungen. Als die Lehrerin Ilaria vor ihrer Wohnung in Rom von einem jungen Afrikaner mit der Botschaft abgepasst wird, er sei ihr Neffe – zudem steht in seinem Pass der Name ihres zeitlebens unerreichbaren, in sich gekehrten Vaters –, wird sie mit der bislang unaufgearbeiteten familiären und nationalen Vergangenheit konfrontiert. Um das Rätsel der Verwandtschaftsverhältnisse zu lösen, muss die Protagonistin sich mit der italienischen Besetzung Äthiopiens befassen – Verwicklungen, die letztlich auch ein neues Licht auf noch schwelende Fehden sowie die Verantwortung Europas für gegenwärtige Flüchtlingsbewegungen werfen.
Die Autorin wurde mit vielen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem Premio Rapallo Carige und dem Premio Selezione Campiello; 2018 war sie Finalistin des Premio Strega. Ihre Werke wurden in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt. Ihr »Letter from the future« über die Corona-Pandemie, der im März 2020 in »The Guardian« erschien, wurde in 35 Sprachen übersetzt und weltweit publiziert (dt. »Ich schreibe euch aus eurer Zukunft«). Melandri lebt in Rom, 2021 ist sie Gast beim Berliner Künstlerprogramm des DAAD.
(Text: internationales literaturfestival berlin)
Veranstaltung in Kooperation mit der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz